Die Friedensidee von Mokra

Weil ich im Rahmen meiner Nachforschungen über die Sippe Stenglein mehr über den Kommandeur des 1. Bataillons im Bamberger Panzer-Regiment 35, Oberst-leutnant (später Generalmajor) Dipl.-Ing. Hans Stenglein (*20.2.1895 Ingolstadt), wissen wollte, dessen Befehls-panzer gleich am ersten Tag des Zweiten Weltkriegs bei Mokra abgeschossen und er dabei schwer verwundet wurde,1 habe ich vor einigen Jahren bei den in Betracht kommenden Gemeinden an der ehemaligen deutsch-polnischen Grenze angefragt, ob sie mir etwas über die seinerzeitigen Ereignisse sagen könnten.
Darauf habe ich mehrere Antworten bekommen, u. a. von der Gemeinde Miedzno2, die mir mitteilte, dass der Ort Mokra zu ihr gehöre und dass sie meinen Brief an einen guten Kenner der Materie weitergegeben habe – an Bernhard Kuss in Psurów.

Am 27. Juli 2003 schrieb der mir unbekannte Mann, dass er mir gerne weiterhelfen wolle, zumal ihm Bamberg nicht unbekannt sei, da er als 10-jähriger Flüchtlings- bube mit seiner Mutter und drei Geschwistern unter mysteriösen Umständen nach Bamberg bzw. Thüngfeld (bei Schlüsselfeld) gekommen und bei den Bauersleuten Franz und Eva Sendner einquartiert worden sei. Ende Oktober 1945 sei die Familie unter noch rätselhafteren Umständen wieder nach Hause zurück.4
Er sei am 20. April 1934 in Klein Ellguth geboren, wo er heute noch lebe. Sein Bauernhof läge drei Kilometer von der ehemaligen deutsch-polnischen Grenze entfernt auf deutscher Seite.
Das in Rede stehende Dorf Mokra bestehe weiterhin, sei ein Schulzeort mit den Gliederungen Mokra I, Mokra II und Mokra III als Teil der Samtgemeinde Miedzno und gehörte am 1. September 1939 selbstverständlich zu Polen, etwa 30 km östlich der deutsch-polnischen Grenze. Die damalige Grenze im Bereich des Landkreises Rosenberg deutete er auf einer von mir übersandten Karte an.5

blaue Linie
schwarze Linie
= deutsch-polnische Grenze 1939
= deutscher Angriff 1.9.1939

Weiter schrieb er, dass am 1. September 1939 um 4.45 Uhr die 4. Panzer-Division unter General Reinhardt die Grenze hinter Windenau passierte und die deutschen Panzer eigentlich ohne wesentlichen Widerstand polnischer Einheiten über Krzepice um 7.30 Uhr nach Klobuck und gegen Mittag in den Bereich von Mokra kamen.
Am Waldrand zwischen Mokra und Miedzno sei es dann zum erbitterten Kampf gegen die stark mit Pak-Geschützen ausgerüstete wolynische Kavallerie-Brigade unter Oberst Julian Filipowicz [1895-1945] gekommen, die vom Panzerzug „Smialy“ („der Mutige“) [auf den Gleisanlagen der dort verlaufenden Eisenbahnstrecke Tarnowskie Góry = Tarnowitz – Gdynia = Gdingen] tatkräftig unterstützt wurde.
Im zähen Abwehrkampf hätten sich die polnischen Soldaten den ganzen Tag den deutschen Angreifern widersetzt. Nach deutschen Quellen habe die 4. Panzer-division 60 Panzer verloren.

Bedeutend groß seien die Verluste an Menschen auf beiden Seiten in dieser Schlacht, dem ersten Boden- kampf im 2. Weltkrieg, gewesen.6
Zum Gedenken und Ehren der gefallenen polnischen Ulanen sei nach dem Kriege am Schlachtfeld ein beachtend großes Mahnmal erbaut worden, an dem jährlich am 1. September große patriotische Feier-lichkeiten zum Gedenken der deutschen Aggression und grausamen Okkupation stattfanden.
1995 wendete sich die Einstellung zum Kriegs- und Nachkriegsgeschehen! Befreundete Bauern von Miedzno hätten ihn besucht und gemeint, dass es mit dem Hass gegen die Deutschen nicht ewig so bleiben dürfe und auch in Richtung polnisch-deutscher Versöhnung irgendwas gemacht werden müsse, nachdem es doch schon vor vielen Jahren zu freundschaftlichen Kontakten und Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen gekommen sei.
Man habe ihn gebeten, authentische deutsche Kämpfer der szt. Mokra-Schlacht ausfindig zu machen. Es sei eine langwierige und mühsame Suche gewesen. Neun Mokra-Wehrmachtssoldaten habe er aufspüren können. 1996 habe er die Friedens- und Versöhnungsbotschaft öffentlich während der Jubiläumsfeier am 1. September überreichen können. Zum 60. Jahrestag des Kampfes um Mokra seien vier Wehrmachtssoldaten am 1. September angereist. Ergreifend und rührend seien die Gesten der Versöhnung und Freundschaft gewesen.
Pfarrer Henryk Betka habe zu dieser Zeit mutig den Bau der Versöhnungs- und Friedenskirche am Schlachtfeld von Mokra begonnen. Am 1. September 2002 sei in Anwesenheit der zwei deutschen Mokra-Kämpfer Walter Kominek und Maximilian Posch in der neuen Kirche die erste Messe gefeiert worden. Bei dieser Gelegenheit sei die von deutschen Veteranen gestiftete Friedensglocke eingeweiht worden. Tausende Menschen hätten an diesem Akt, der wegen der Anwesenheit des Premierministers Leszek Miller und des Verteidigungsministers Jerzy Schmajdzinski zur Staatsfeier geworden war, teilgenommen.
In seinem Haus befände sich ein beträchtlich großer Bestand der Mokra-Versöhnungs- dokumentation, die er mir zugänglich zu machen willig sei.

Um es kurz zu machen:
Es entwickelte sich ein reger Schriftverkehr, der in eine Einladung mündete, die ich lange vor mir herschob. Nun bin ich ihr gefolgt. Am 25. Juli 2005 bin ich in Begleitung meiner Frau und meiner Tochter Gudrun mit gemischten Gefühlen die knapp 700 km lange Strecke über Görlitz, Bunzlau (Mittagessen), an Breslau vorbei nach Oppeln und dann über Rosenberg (heute: Olesno) nach Psurów bei Radlow gefahren, wo vor der Haustür am 1. September 1939 um 4.45 Uhr der 2. Weltkrieg begann.
Der Empfang war überaus herzlich. Schnell war das Wichtigste besprochen und der Ablauf des Programms mit dem Besuch Mokras als zentrale Begebenheit festgelegt. Ich habe das Mahnmal und die Friedenskirche besucht (im Anschluss daran übrigens auch das polnische Nationalheiligtum, die Schwarze Mutter Gottes in Tschenstochau). Zusammen mit Bernhard Kuss, der Vorstandschaft des Trägervereins und dem Bürgermeister habe ich sowohl am Mahnmal für die gefallenen Soldaten beider Nationen als auch am Massengrab auf dem Friedhof von Miedzno für die Soldaten der wolynischen Brigade ein Blumengebinde niedergelegt und mich im Museum ins Ehrenbuch eingetragen. Ich bin tief beeindruckt und tief bewegt gewesen – ich kann es nicht anders sagen.

Die Versöhnung von Mokra hatte nebenbei noch einen anderen positiven Aspekt. Auf Hinweise polnischer Bewohner wurden im Gebiet Mokra – Miedzno einige Massengräber deutscher Soldaten aus der Zeit Januar bis Februar 1945 lokalisiert. Die zersprengten Wehrmachtstruppen hatten sich nach der in Richtung Oder schnell vorrückenden russischen Panzerfront nach Westen durchschlagen wollen und sind fast alle aufgespürt und in der Regel sowohl von Rotarmisten als auch Zivilpolen an Ort und Stelle grausam ermordet worden. Die jetzige Generation war der Meinung, dass diese armen, gehetzten und getöteten Soldaten auch getaufte Christen waren und auf die Massengräbern ein Zeichen – ein Kreuz oder eine Tafel – gehöre und das Areal eingezäunt werden müsse. Es kam ganz anders. Alle Massengräber sind nach langwierigen Verhandlungen mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im gesetzlichen Vorgehen exhumiert worden; es waren über 500 Gebeine, die zum Teil noch mit Kennmarken versehen waren. Die Überreste sind auf einen regelrecht eingerichteten deutschen Militärfriedhof im Gebiet von Kattowitz gekommen.

Bernhard Kuss, der sich von Anfang an für das Gelingen der Versöhnungsidee und die Umbettung der gefallenen Soldaten engagierte und als Vermittler und Dolmetscher fungierte, war mehrere Sessionen im Sejm und ist jetzt – als Mitglied der neunköpfigen Sozial-Kulturellen Gesellschaft der Deutschen in Polen – Vorsitzender des 19-köpfigen Kreistages von Rosenberg (heute: Olesno).
Von den 74 000 Einwohnern des Landkreises sind zwei Drittel deutschstämmig. Die etwa 100 000 Einwohner des Landkreises Oppeln sind ebenfalls überwiegend deutscher Abstammung. Die Kreistage haben alle ohne Unterschied 19 Mitglieder.

Ich habe mich auf meine Weise revanchiert und für Bernhard Kuss und seine Freunde – darunter die Herren Jan Kus, Landrat von Olesno, und Bernard Gaida, Vizepräsident des Landtags [= Bezirkstags] von Oppeln – ein kleines Essen gegeben. Die (etwas andere polnische) Küche hat köstlich gearbeitet. Der Gedanken- austausch kam dabei nicht zu kurz. Groß ist die Sorge, dass die deutsch-stämmige Bevölkerung von Deutschland vergessen wird, obwohl sie am Desaster des 2. Weltkriegs nicht mehr schuld sei wie die übrige deutsche Bevölkerung. Nicht ausgespart wurde die Tatsache, dass die jungen Leute im eigenen Land kaum eine Chance hätten (bei Stundenlöhnen von 1 Euro pro Stunde) und deshalb in großer Zahl in Deutschland arbeiteten (wobei ihnen zugute käme, dass sie zwei Pässe besäßen – einen polnischen und eine deutschen). Allein aus dem Bezirk Oppeln mit seinen rd. 1,1 Millionen Einwohnern seien 10 Prozent dauerhaft und weitere 10 bis 20 Prozent vorübergehend in Deutschland beschäftigt. Diese Generation würde aller Voraussicht nach in Deutschland bleiben und das eigene Land daher ausbluten.


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Andreas Stenglein, im Dezember 2006


vor dem Mahnmal

Niederlegung eines Blumengebindes
Andreas Stenglein und Bernhard Kuss

Museum
Bernhard Kuss, Andreas Stenglein, Irmengard Stenglein,
Bürgermeister Andrej Szczypiór, GR Marek Trocha

Bernhard Kuss und Andreas Stenglein (Irmengard Stenglein)

Landrat Jan Kus und Andreas Stenglein

Friedenskirche

1) Das Ergebnis meiner Forschungen habe ich unter dem Titel Generalmajor Hans Stenglein und der Überfall auf Polen durch das Panzerregiment 35 zusammengefasst und 2003 ver- öffentlicht (auch bei der Staatsbibliothek Bamberg unter „Generalmajor Hans Stenglein“). Dort ist die Familiengeschichte ausführlicher dargestellt.

2) Die Gemeinde Miedzno, 20 km von Czestochowa (= Tschenstochau) entfernt, besteht aus den Schultheißämtern Miedzno, Ostrowy, Mokra, Borowa, Wladyslawów, Kolaczkowice Duze, Kolaczkowice Male, Izbiska, Wapiennik sowie Debiniec und zählt 7500 Einwohner.

3) Miedzno auf altem polnischen Gebiet und Psurów (früher: Klein Ellguth) im Kreis Olesno (früher: Rosenberg OS) auf neuem polnischen Gebiet sind circa 30 km voneinander entfernt.

4) Über die Flucht und die Rückkehr gibt es von ihm zwei Aufsätze „Der Schutzengel und die Heimkehr“ (auch bei der StBB unter Der Schutzengel und die Heimkehr).

5) Die zum katholischen Kirchenspiel Rosenberg gehörigen Pfarreien Ammern (Sternalitz) bzw. Hedwigstein (Kostelitz) umfassten die Orte Altvorwerk, Ellguth, Grenzhof, Klein Ellguth, Kolpnitz, Radlau [= Radlow] und Wollendorf bzw. Bischdorf, Alteneichen, Friedrichswille, Hartwigsdorf, Oberwindenau, Buchental, Straßenkrug, Tannenhöhe, Windenau [= Wichrow] und Zarzik. Auf der Karte ist Radlow zu erkennen, nicht Windenau; ostwärts davon liegt Mokra.

6) Der Angriff im Süden Polens erfolgte zeitgleich mit dem Angriff im Norden auf die Westerplatte bei Danzig durch das deutsche Schulschiff „Schleswig-Holstein“. Teil der 4. Panzerdivision war das Bamberger Panzerregiment 35 unter Oberst (später General der Panzertruppe) Heinrich Eberbach. Das Regiment war bereits im August 1939 per Eisenbahn nach Neuhammer in der Nähe von Kreuzburg (nun: Kluczbork) bei Oppeln verlegt worden, wie mir Feldwebel Johann Schirber aus Gaustadt (gestorben am 2.9.2003) einmal erzählte, weil es ja sonst bei „Kriegsausbruch“ gar nicht an Ort und Stelle hätte sein können. Gegen 17 Uhr war die Schlacht geschlagen. Der erste Verwundete war der Kommandeur des 1. Bataillons, Oberstleutnant Hans Stenglein. An seine Stelle trat der Chef der 2. Kompanie, Hauptmann (zuletzt Generalmajor 1.3.45) Meinrad von Lauchert. 22 Mann fielen, 27 wurden verwundet. Die Verluste auf polnischer Seite waren mindestens ebenso groß. 60 deutsche Panzer sind kaputtgeschossen worden.
Das Bamberger Panzerregiment 35 im Verband der 4. Panzerdivision rückte von Windenau aus über Mokra und Radomsk in Richtung Warschau vor.
Die „amtliche Geschichtsschreibung“ beginnt, soweit ich das überblicke, durchwegs damit, dass am 31.8.1939 polnische Soldaten den deutschen Rundfunksender in Gleiwitz überfielen und dadurch den Krieg auslösten. (In Wirklichkeit handelte sich um einen fingierten Überfall deutscher SS-Leute in polnischen Uniformen unter dem Kommando des SS-Sturmbann-führers Alfred Naujock.) Am 1. September 1939 begann um 4.45 Uhr der Angriff des deutschen Schulschiffs „Schleswig-Holstein“ auf die Westerplatte bei Danzig. Dass zeitgleich der Angriff auch im Süden Polens von Schlesien und der Slowakei aus erfolgte, wird meistens weggelassen oder nur verbrämt wiedergegeben.

Nachruf

Bernhard Kuss, der unermüdliche Mahner und glühende Kämpfer für die Aussöhnung zwischen den Deutschen und den Polen, ist am 1. März 2015 verstorben. Er war ein großartiger Mensch. Ich bin froh, ihn kennengelernt zu haben. Ich betrauere ihn sehr.

Andreas Stenglein