Überfall auf Polen im Norden und im Süden

Bei den Gedenkfeiern anlässlich des Überfalls auf Polen wird, worauf ich schon einige Male hingewiesen habe, immer nur vom Angriff am 1. September 1939 um 4.45 Uhr auf die Westerplatte bei Danzig im Norden Polens gesprochen. Der Angriff im Süden wird ignoriert.

Eine E-Mail vom 5. Juni 2009 von einer mir unbekannten Frau aus Polen zwang mich zur erneuten Beschäftigung mit diesem Thema und zur Ergänzung meiner bisherigen Veröffentlichungen.1 Die E-Mail habe ich selbstverständlich postwendend beantwortet.

Tatsache ist, dass das deutsche Sturzkampfgeschwader 76 unter Kommandeur Walter Sigel2 am selben Tag kurz nach 4.30 Uhr das 16.000 Einwohner zählende Städtchen Wielun im Süden Polens3 unter Beschuss genommen hat, etwa fünf bis zehn Minuten früher als das Schulschiff „Schleswig-Holstein“ die ersten Schüsse auf den polnischen Militärstützpunkt Westerplatte bei Danzig abfeuerte. 1200 Menschen starben im Bombenhagel der deutschen Stukas, die von der Dessauer Flugzeugfabrik Junkers eigens für den Polenkrieg mit einem doppelt so starken Motor wie das bisherige Modell aufgerüstet worden waren. Innerhalb weniger Minuten sind 70 Prozent des militärisch völlig bedeutungslosen Städtchens zerstört worden. Über die Uhrzeit des ersten Angriffs gehen die Angaben auseinander. Laut Meldebericht der Luftwaffe starteten die Stukas um 5.02 Uhr vom Flugplatz Nieder-Ellguth bei Oppeln4 aus und griffen die Stadt um 5.40 Uhr an. Polnische Augenzeugen erklären jedoch unisono, dass das Bombardement eine Stunde früher stattgefunden habe.

Bis vor wenigen Jahren wusste kaum jemand in Polen, dass der Zweite Weltkrieg nicht um 4.45 Uhr in Danzig ausgebrochen ist (dieser Zeitpunkt gilt als der Beginn des Zweiten Weltkriegs), sondern 20 Kilometer hinter der damaligen deutsch-polnischen Grenze und hier der eigentliche Kriegsbeginn gesehen werden muss. Jahre lang haben die Polen den Mythos Westerplatte gepflegt – „nicht ganz uneigennützig„, wie der Historiker Tadeusz Olejnik meint. „Jede Nation pflegt ihr Heldentum. Und der Kampf um die Westerplatte war ein Beispiel dafür, zu welchen Opfern die Polen bereit waren, um ihr Vaterland zu verteidigen. Und Wielun? Wielun war eine kleine, ruhige Stadt, wo es ein Massaker, aber keine Helden gegeben hat“, meint der Geschichtswissenschaftler. „Wielun konnte also kein Vorbild für die Polen sein.“ Und eine Mitarbeiterin des Wieluner Stadtmuseums sagt, dass man nach 1945 bis zur Wende nicht offiziell über den Angriff auf Wielun reden durfte. „Die sozialistische Volksrepublik pflegte lieber den Kult um den heroischen Kampf auf der Westerplatte, wo die polnischen Verteidiger den deutschen Marinekommandos schwere Verluste zufügten, bevor sie in Ehren kapitulieren durften.“ Die Deutschen schließlich vertuschten die Bombardierung, weil nach dem Haager Abkommen von 1907 unverteidigte Städte nicht angegriffen werden dürfen. Die deutschen Bodentruppen sind am 2. September 1939 einmarschiert. (Nach Ludger Kazmierczak in Zweiter Weltkrieg: Es begann in Wielun.)

Der einige Minuten später zeitgleich mit dem Angriff auf die Westerplatte um 4.45 Uhr erfolgte Angriff der 4. Panzerdivision unter General Georg Hans Reinhardt im etwa 50 Kilometer von Wielun (über Krzepice) entfernten Mokra fällt völlig unter den Tisch, worauf ich schon in meinen Arbeiten Generalmajor Hans Stenglein und der Überfall auf Polen durch das Panzerregiment 35 und Die Friedensidee von Mokra hingewiesen habe. Ich will die Sache in groben Zügen hier noch einmal schildern und zwar so, wie sie mir Bernhard Kuss aus Psurów (früher Klein Ellguth), Gemeinde Radlów (früher Radlau), dessen Bauernhof drei Kilometer von der ehemaligen deutsch-polnischen Grenze entfernt auf deutscher Seite liegt, schriftlich und mündlich dargelegt hat.5 Die Gemeinde Radlów liegt im Landkreis Rosenberg, jetzt Olesno.

Am 1. September 1939 um 4.45 Uhr hat die 4. Panzerdivision unter General Reinhardt die Grenze hinter dem ebenfalls zu Radlów gehörenden 430 Einwohner zählenden Ort Windenau (früher Wichrau, zwischen 1936 und 1945 Windenau, polnisch Wichrow) passiert. Ohne wesentlichen Widerstand polnischer Einheiten kamen die deutschen Panzer über Krzepice (circa 10 km) um 7.30 Uhr nach Klobuck (rund 15 km) und gegen Mittag in den Bereich von Mokra (6-7 Kilometer). Zwischen Mokra und Miedzno hatte sich am Waldrand, stark mit Pak-Geschützen ausgerüstet, die wolynische Kavallerie-Brigade unter Oberst Julian Filipowicz [1895-1945] verschanzt. Es kam zum erbitterten Kampf. An der dort verlaufenden Eisenbahnstrecke war zusätzlich der polnische Panzerzug „Smialy“ (der Mutige) im Einsatz. Im zähen Abwehrkampf haben sich die polnischen Soldaten den ganzen Tag den deutschen Angreifern widersetzt. Die Menschenverluste sind auf beiden Seiten groß gewesen. Nach deutschen Quellen verlor die 4. Panzerdivision 60 Panzer. Die Schlacht bei Mokra war der erste Bodenkampf im II. Weltkrieg. Einer der ersten Verwundeten bei Mokra war der Kommandeur des 1. Bataillons im Bamberger Panzer-Regiment 35, Oberstleutnant (später Generalmajor) Diplom-Ingenieur Hans Stenglein (*20.2.1895).

Hans Schirber aus Gaustadt6 von der 2. Kompanie erzählte mir als Zeitzeuge: „Das Regiment war schon etwa sechs Wochen vor ‚Kriegsausbruch‘ nach Neuhammer [Schlesien] verlegt worden. Sonst hätte es ja bei der Kriegserklärung am Freitag, 1. September 1939, nicht sofort an Ort und Stelle sein können.“ Der Angriff auf Polen erfolgte in der Früh. Den ersten größeren Widerstand gab es bei Mokra III. Dort wurde Stengleins mit einem Balkenkreuz (= Eisernes Kreuz) gekennzeichneter Befehlspanzer abgeschossen und er dabei schwer verwundet.

Zum Gedenken und Ehren der gefallenen polnischen Ulanen wurde nach dem Kriege am Schlachtfeld ein Mahnmal errichtet, später eine Versöhnungs- und Friedenskirche für alle Gefallenen gebaut, die am 1.9.2002 eingeweiht wurde. Auf Bernhard Kuss’ Einladung und der des Bürgermeisters von Miedzno bin ich am 25. Juli 2005 in Begleitung meiner Frau und meiner Tochter Gudrun nach Psurów gefahren, wo vor der Haustür am 1. September 1939 um 4.45 Uhr der 2. Weltkrieg begann, um die Gedenkstätten von Mokra zu besuchen.7 Mokra mit drei Gliederungen Mokra I, Mokra II und Mokra III besteht heute noch. Er gehört zur fünf Kilometer entfernten Gemeinde Miedzno. Am 1. September 1939 gehörte Mokra (ca. 30 Kilometer östlich von der damaligen deutsch-polnischen Grenze) selbstredend zu Polen.

Andreas Sebastian Stenglein
Bamberg-Gaustadt, im März 2010

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1) „Dear Mr. Stenglein, My name is Anna Nicpon, I’m looking all informations regarding begining of 2nd world war. People from my small hometown Krzepice are trying to prove that second world war was started in the area: Botzanowitz, Podleze Szlacheckie. I have found on Your website the following information: „Es entwickelte sich ein reger Schriftverkehr, der in eine Einladung mündete, die ich lange vor mir herschob. Nun bin ich ihr gefolgt. Am 25. Juli 2005 bin ich in Begleitung meiner Frau und meiner Tochter Gudrun mit gemischten Gefühlen die knapp 700 km lange Strecke über Görlitz, Bunzlau (Mittagessen), an Breslau vorbei nach Oppeln und dann über Rosenberg (heute: Olesno) nach Psurów bei Radlow gefahren, wo vor der Haustür am 1. September 1939 um 4.45 Uhr der 2. Weltkrieg begann.’ Could You please be so nice and write me where this information comes from? Or how do You know that? I will be grateful for Your help,
Ps. I understand german language a little bit, but not to much (I’m attending on the German language courses since few months).
Kind regards, Anna Nicpon“

2) Das Sturzkampfgeschwader 76 hatte am 15. August 1939 bei einer Vorführung über dem Truppenübungsplatz Neuhammer in Schlesien dreizehn Stukas Ju 87 durch Absturz verloren. Neuhammer a. Queis heißt heute Swietoszów und gehört zur Gemeinde Wehrau (Osiecznica) im Südwesten Polens. Bis 1945 gehörte der Ort zum Deutschen Reich. Der gleichnamige Truppenübungsplatz war der größte Deutschlands östlich der Oder.

3) Die Stadt Wielun liegt im Dreieck Oppeln (Opole) – Lodz (= Lodsch = Lódz) – Tschenstochau (Czestochowa) an den Landesstraßen 45 von Oppeln nach Lodz und 43 von Tschenstochau nach Wielun.

4) Ich habe nur ein Nieder-Ellguth (Ligota Dolna) gefunden, das bei Kreuzburg (Kluczbork), 38 km nördlich von Oppeln (Opole), liegt.

5) Kuss, Bernhard: Geboren am 20. April 1934 in Klein Ellguth, Kreis Rosenberg. Als Flüchtlingskind kam er im März 1945 mit seiner Mutter und drei Geschwistern nach Bamberg, genau nach Thüngfeld bei Schlüsselfeld (in das Anwesen der Familie Franz und Eva Sendner, das sich heute im Besitz von Frau Gerda Sendner, geborene Herzog, befindet). Ende Oktober 1945 kehrte die Familie nach Schlesien zurück.

6) Hans Schirber, *23.3.1919 in Königsberg in Bayern, zuletzt Oberfeldwebel, mit dem ich anfangs August 2003 gesprochen habe, ist am 2. September 2003 verstorben. Im Regiment waren wenigstens zwei weitere Gaustadter: Ernst Haßfurther (*14.3.1916), der am 15.5.1940 in Belgien gefallen und im Soldatenfriedhof Lommel beigesetzt ist, sowie Valentin Schneiderbanger (*16.6.1918), der zuletzt in Trosdorf lebte.

7) Was vielleicht ebenso wichtig ist: Auf Hinweise polnischer Bewohner wurden im Gebiet Mokra – Miedzno einige Massengräber deutscher Soldaten von Januar-Februar 1945 lokalisiert, die nach langwierigen Verhandlungen mit dem Verband Deutscher Kriegsgräberfürsorge im gesetzlichen Vorgehen exhumiert wurden … Die Überreste kamen auf einen regelrecht eingerichteten deutschen Militärfriedhof im Gebiet von Kattowitz.

Die blaue Linie ist die damalige Grenze.